Manche Schüler sind komplett abgetaucht - Fallbericht aus dem Referendariat

Wie war deine Arbeitssituation vor Corona?

Ich bin gerade im Referendariat an einem Gymnasium, also in der Ausbildung zum Lehrer. Vor der Pandemie war die Arbeitsbelastung bereits sehr hoch. Wir hatten jede Woche in allen unseren Fächern Fachdidaktik-Kurse, außerdem noch Pädagogik und weitere Seminare. An vier Tagen in der Woche mussten wir zudem in die Schule gehen und hospitieren oder unterrichten. Eigentlich eine schöne Arbeit, vor allem das Entwickeln von eigenem Unterricht. Gerade am Anfang, wo man praktisch bei Null anfangen muss, dauert es allerdings eine halbe Ewigkeit, eine Unterrichtsstunde vorzubereiten, sodass ich mit durchschnittlich etwa sechs Stunden Unterricht pro Woche schon ziemlich ausgelastet war. Vor allem, wenn man nicht sein gesamtes Leben aufgeben will und noch andere Baustellen hat, z.B. aufgrund von Familie oder weil man politisch oder anderweitig ehrenamtlich aktiv ist, hat man kaum noch Ruhepausen zur Erholung.

Das alles wäre m.E. keineswegs notwendig. Früher dauerte das Referendariat zwei Jahre statt wie momentan 18 Monate, dadurch war alles etwas weniger angespannt und die zahllosen Prüfungsleistungen kamen nicht ganz so Schlag auf Schlag wie jetzt. Der Hauptgrund für die Verkürzung war finanziell: Man kann Referendare natürlich nicht so vielseitig einsetzen wie Lehrer, sie brauchen viel Betreuung in der Schule und am Lehrerseminar. Das war dem Bundesland Baden-Württemberg wohl zu teuer, weshalb sie die Ausbildung abgekürzt haben – zu Lasten der Referendare und auf Kosten der Qualität ihrer Ausbildung.

Wie hat sich deine Arbeitssituation durch die Pandemie verändert?

Das war natürlich eine radikale Veränderung. Man hatte das Gefühl, dass diese Veränderungen geradezu über einen hereinbrechen, da bis wenige Tage zuvor niemand ernsthaft damit gerechnet hatte, dass die Schulen so schnell geschlossen würden. Aber die Entwicklung der Pandemie in Deutschland verlief dann so rapide, dass das sicherlich auch die richtige Entscheidung war – nein, richtig wäre es gewesen, diesen Schritt schon früher und präventiv zu gehen, aber das hat die Regierung versäumt, weil sie aus Rücksicht auf die Unternehmen und ihre Gewinne lange Zeit den „Lockdown“ hinausgezögert hat. Nach der Schulschließung musste zunächst mal alles neu organisiert und umgestellt werden. In der ersten Woche lief erst mal kaum etwas. Schritt für Schritt begannen dann aber alle Lehrer, ihren Unterricht online zu halten, in Form von Arbeitsaufträgen und mit Videokonferenzen. Und auch das Lehrerseminar verfährt so, d.h. wir bekommen Aufgaben, die wir alleine oder in Gruppenarbeiten (per Videochat) bearbeiten sollen. Das heißt, ich komme aus den ständigen Videokonferenzen gerade kaum noch raus. Und wenn keine Videokonferenz ist, arbeite ich meistens auch am PC. Das ist natürlich sehr anstrengend und auch nicht gesund. Ich schaffe es auch nicht konsequent, jeden Tag einen Spaziergang zu machen und auch für Sport fehlt oft die Zeit oder die Disziplin. 

Generell muss man schon die Frage stellen, wie viel der Online-Unterricht bringt. Sicher ist er besser als nichts, aber die Beziehung zu den Schülern ist für einen guten Unterricht schon zentral und das funktioniert auf diese Weise natürlich kaum. Man merkt auch, dass immer nur ein Teil der Schüler sich an dem Unterricht beteiligt. Andere sind komplett abgetaucht, sie machen die Aufgaben nicht und erscheinen teilweise nicht zu verabredeten Chat-Meetings. Woran das liegt, ist schwer zu sagen, da es ja auch kaum die Möglichkeit gibt, nachzufragen. Ich denke, dass es teilweise eben auch eine soziale Frage ist: Wer keinen eigenen Computer hat, sondern sich den PC mit der ganzen Familie teilt, sodass die Geschwistern vielleicht gerade auch daran ihre Hausaufgaben machen müssen, dann ist man teilweise von dieser Form des Unterrichts einfach ausgeschlossen. Wenn man nur auf seinem Handy im Internet recherchieren kann, um Aufgaben zu erledigen, ist das natürlich auch eine schlechte Voraussetzung. Es ist verständlich, dass unter diesen Bedingungen die Schüler Prioritäten setzen müssen und dann die Nebenfächer schnell hinten runterfallen. Ich befürchte also, dass die Kluft zwischen leistungsstarken und schwächeren Schülern sich durch diesen Modus gerade noch vertiefen könnte. Keine Ahnung, wie leicht es wird, das dann wieder aufzuholen. 

Trotz all dieser Probleme denke ich, dass die Schulschließung alternativlos war. Umso gefährlicher finde ich, dass die Schulen jetzt, bevor die Situation wirklich entschärft ist, bereits wieder geöffnet werden! Ernsthaft, wer glaubt, man könne durch Hygieneregeln verhindern, dass sich die Pandemie über die Schulen wieder ausbreitet, der lügt sich selbst in die Tasche. Natürlich sind die Schutzmaßnahmen besser als gar nichts, aber ich gehe nicht davon aus, dass die Schüler sie konsequent einhalten werden, v.a. nachdem sie sich wochenlang nicht gesehen haben. Die Ansteckungsgefahr ist in geschlossenen Räumen weitaus höher als draußen. Überall sind Flächen, die von Lehrern und Schülern berührt werden. Lehrer aus Risikogruppen dürfen, zumindest bei uns, auch weiterhin zu Hause bleiben. Das ist natürlich gut, aber es zeigt auch, dass niemand wirklich davon ausgeht, dass die Ansteckungsgefahr in der Schule gering ist. Ich denke also, dass wir als Lehrer ebenso wie die Schüler und letztlich die ganze Gesellschaft durch die Schulöffnung einer Gefahr ausgesetzt werden. 

Wie kann eine Nachbarschaftshilfe von unten für dich in dieser Situation eine Unterstützung sein?

Für mich geht es dabei nicht nur konkret um die Nachbarschaftshilfe. Ich denke, dass auch die Gewerkschaft eine aktivere Rolle dabei spielen müsste, die Beschäftigten in umfassender Hinsicht zu beraten und gemeinsam gegen Probleme vorzugehen. Dabei kommt es natürlich aber auf jeden Einzelnen an, sich da auch einzubringen und eine Gewerkschaft von unten aufzubauen, die sich um die Belange ihrer Mitglieder kümmert. Andrerseits fängt Selbstorganisierung für mich teilweise auch schon ganz klein an: Die Referendare sprechen sich natürlich weiterhin in Whatsapp-Gruppen oder auf anderem Wege ab, man tauscht sich aus über die Probleme in der jetzigen Situation und überlegt sich z.B., gemeinsam eine Mail zu schreiben, wenn die Flut an Arbeitsaufträgen mal wieder Überhand nimmt. Das ist auf jeden Fall eine große Stütze, dass es im Referendariat zwar einerseits viel Überlastung, aber andrerseits auch viel Solidarität gibt. 

Die Nachbarschaftshilfe als konkrete Form ist für mich aber auch deshalb wichtig, um den Horizont der eigenen Spezialprobleme immer wieder überwinden zu können und zu sehen, wie es anderen Leuten mit der jetzigen Situation geht – in vielen Fällen natürlich weitaus schlechter, denn wir haben zumindest gerade einen festen Job und kriegen weiter unser Gehalt. Mir persönlich helfen solche solidarischen Formen der Selbstorganisierung zudem einfach dabei, einen Raum zu finden, in dem solche Probleme besprochen werden können. Letzten Endes geht es für mich dabei auch um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wir sehen ja, wie problematisch die staatliche Politik gerade ist, nicht nur in der Frage des Gesundheitsschutzes, sondern auch, weil die Unternehmen großzügig mit Kurzarbeitergeld und Krediten eingedeckt werden, während man die Lasten der Krise weitgehend auf die arbeitende Bevölkerung abwälzt. Gleichzeitig sind viele Menschen zwar irgendwie gerade unzufrieden mit der Lage, wofür es an sich ja genug Gründe gibt. Sie werden aber von rechten Parolen und immer absurder werdenden Verschwörungstheorien in die Irre geführt und gehen dann de facto gegen ihre eigenen Interessen auf die Straße: Gegen den Gesundheitsschutz, damit ihr Chef wieder Gewinne machen kann. 

In dieser Situation ist es umso wichtiger, sich in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz gegenseitig zu unterstützen und wo möglich auch einen Raum für den politischen Austausch zu schaffen. Denn die richtige Antwort heißt jetzt Solidarität von unten und wirksamer Schutz der Bevölkerung.